Gerd Börner
Geboren: 14.02.1944 in der Uckermark Studium der Elektrotechnik
Die Initialzündung für ein intensiveres Interesse und Studium am Haiku war die Lektüre des Buches „Haiku - Japanische Gedichte von Dietrich Krusche“ (dtv, 1994). Mich hatte schon damals seine moderne Sicht auf die Haiku-Dichtung und die freien Übertragungen dieser kürzesten Gedichtform aller Literaturen begeistert. Vorbilder sind natürlich die alten japanischen Meister, hier vor allen Dingen Issa, Basho und Chiyo-Ni. Zu Beginn meiner Haiku-Lehre waren Mario Fitterer, Hubertus Thum, Ingrid Kunschke meine Vorbilder, heute sind es neue Haiku-Aktivistinnen aus dem Kreis der DHG bzw. haikulike-Community auf Facebook.
Werdegang: - Nach ersten Versuchen (seit 1995), das traditionelle Silbenschema einzuhalten, habe ich mich schnell zu der freien Komposition der Haiku (wie sie Krusche vorschlug) bekannt. - Später folgte ich den in unserem Sprachraum neuen Bemühungen (Dietmar Tauchner, Udo Wenzel), das zeitgenössische Gendai-Haiku bekanntzumachen. - Neben der Beschreibung eines Augenblicks in der Natur oder im gesellschaftlichen Miteinander ergab sich für mich ein weiterer Schritt: der fließende Übergang zum Kurzgedicht mit Haiku-Charakter. - 1997 wurde ich Mitglied der Deutschen Haiku Gesellschaft e.V. unter der ersten Präsidentin Margret Buerschaper - 9 Jahre im Vorstand der DHG (von 2001 bis 2009) - Betreuung der Homepage von 2001 bis 2005 - Initiator der Haiku-Werkstatt der DHG - Teilnahme an Kettengedichten mit Ingrid Gretenkort-Singert - Nach einigen Lehrjahren (bei John Carley, William J. Higgenson) war ich selbst tätig als sabaki, Leiter von Renku-Dichtungen) nah an Tradition und klassischem Regelwerk (Hyakuin, Kasen, Nijûin, Hankasen, Shishi,Tanrenga, Rengay) - Beschäftigung mit Haibun (Lydia Brüll) - Beschäftigung mit Tanbun (Larry Kimme, USA). Tanbun ist die Verbindung eines (sehr) kurzen Haibun und einem Haiku oder Tanka vor oder hinter dem Prosatext - Beschäftigung mit Triparshva, Jûsabutsu, Jûnicho, Shisan usw. - Teilnahme an Renshi-Dichtungen (nach E. Klopfenstein) - frei von Tradition und klassischem Regelwerk - Eigene Homepage (www.ideedition.de) mit gesprochenen Haiku und Haibun (gesprochen von Detlef und Marie Bierstedt) - Mitarbeit bei Haiku heute (Volker Friebel) von 2005 bis 2007 - Mitarbeit bei Chrysanthemum (Beate Conrad) von 2007 bis 2016 - Mitarbeit am Projekt Sperling, Haikuscope (Hubertus Thum, Michael Denhoff und Gerd Börner) von 2010 bis 2015
Veröffentlichungen: - „Hinterhofhitze“, Moderne Kurzlyrik – Haiku und Haibun, IDEEDITION, 2005 - „offene Ferne“, Kurzlyrik und Kurzprosa, IDEEDITION, 2008 - „mitten im Lachen“, Kurzgedichte und Prosa-Miniaturen, IDEEDITION, 2013 - „Das Echo der Kiefern“, Haiku, Kurzlyrik und IDEEDITION, 2018 - weitere Veröffentlichungen in Anthologien, Print- und E-Journalen, Gemeinschaftsdichtungen und in Ausstellungen (siehe im Einzelnen www.ideedition.de) - Lesungen in Cafés und im Autorenforum Berlin e.V. (Schwartzsche Villa) - Briefwechsel mit Jane (Ahapoetry) und Werner Reichhold (Symbiotic Poetry) (USA)
Haiku
Die Häuser im Tal so nahe sind sie sich von hier oben
Auf dem Arm Altersflecke zwischen der Nummer
mitten im Lachen das Geräusch morscher Dielen
Im Treppenhaus – dein Lächeln ist schon oben
der kleine Tag ... eine Fliege setzt sich auf das Mobile
Pusteblume dich habe ich leuchten sehen
Statement: Als zeitgenössischer Haiku-Autor versuche ich neben der Beobachtung eines Naturereignisses und den (indirekten) Bezug zu den Jahreszeiten und damit zu den vier Abschnittes des Lebens, auch einen Augenblick das menschliche Miteinander in der Gesamtheit unseres Seins und unserer natürlichen Umgebung zu beschreiben. Dazu verwende ich Schlüsselwörter und Schlüsselthemen aus unserem kulturellen Lebensumfeld. Ich versuche den Text soweit zu reduzieren, dass es keine überflüssigen (Füll-)Worte mehr gibt. Der Leser soll den Freiraum haben, in die Assoziationswelt des Autors zu treten, um dann im Nachhall schlaglichtartig das zu entdecken, was im Text eben nicht ausgesprochen wurde. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (Paul Klee) Besonders gelungen sind Texte, die andere Sinne ansprechen als im Text beschrieben wurden (Synästhesie). Ein japanischer Dichter hat das Haiku treffend mit einem Kreis verglichen: Der erste Halbkreis ist die direkte Beschreibung des Augenblicks. Der zweite Halbkreis steht für die die aktive Mitarbeit des Lesers, um - je nach Lebenserfahrung, emotionaler Verfasstheit oder Sozialisierung in einer ganz eigenen Assoziationswelt – den Kreis zu schließen und damit den Text in einer neuen Bedeutungsebene erst zum Haiku zu vollenden. Der Übergang – auch zu meinen – Kurzgedichten ist fließend. Während das Gedicht von einem Worteinfall, von einem Thema, von einer Stimmung ausgeht, geht das Haiku von einem Bild, von einem Assoziationsraum (Jahreszeitenwort, Tageszeit, soziokulturelles Schlüsselwort) aus und versucht den sogenannten Haiku-Moment oder flash beim Leser auszulösen.
Haibun
Am Kopfende
Vater stand am Kopfende ihres Totenbettes und fuhr sich unentwegt mit der Hand durch sein schütteres Haar. Mit geröteten Augen starrte er auf das Unfassbare und versuchte Mutter wieder ins Leben, wieder zu sich zurückzuholen. Er strich ihr über die Augen, die Wangen und den Hals. Mit den Händen versuchte der alte Mann zu begreifen. „Sie lebt doch noch ... Sie macht immer so zu mir...“, dabei ahmte er die vertrauten Lippenbewegungen nach, wenn Mutter ihre Zähne herausgenommen hatte
in die Tiefe sinken – den Grund nicht finden mit den Zehen
Tanbun
Stille
Heller Tag, wir lassen uns im Wannsee treiben – die Ohren unter dem Lärm
Bahnhof Grunewald Gleis 17 zwei alte Kinder küssen den Rost der Gleise bleich
Haiga
(September 2019) |