Haiga-Besprechung
in 44-2021/12
Haiku: Eleonore Nickolay / Foto: Otmar Nickolay
Ramona Linke:
Dieses Haiga in seiner Schlichtheit übt auf mich eine besondere Faszination aus. Das Zusammenspiel von Bild und Haiku ist durch eine zauberhafte Leichtigkeit geprägt, wirkt geradezu spielerisch. Die Heiterkeit der ersten beiden Zeilen des Textes lassen mich an ein hüpfendes Mädchen im bunten Sommerkleid, an einen Knaben in abgewetzten kurzen Hosen – das spitzbübische Lächeln inbegriffen, denken. Das Kind auf dem Foto, samt seiner Angel vorsichtig ins Bild geschoben, es baumelt mit den Beinen und fischt sich das S … von Sommer, Sonne und Spaß. Die/er BetrachterIn liest weiter und bemerkt die kleine winkende Hand an einem Fenster des Krankenhauses. Winkt ein Kind, das im Krankenhaus liegt oder eines, das jemanden besucht hat, jetzt Abschied nimmt? Es wird offengelassen, das Ungesagte, der Nachhall darf sich in der/im jeweiligen LeserIn entfalten. Das Einfache, Unvollkommene, die spürbare Einsamkeit auf verschiedenen Ebenen wird hier mit dem aktuellen Geschehen, den Auswirkungen der Zeit konfrontiert …
Für mich ein bemerkenswertes Haiga.
in 43-2021/11
Ramona Linke
Claudia Brefeld:
Schon der erste Blick auf das Foto vermittelt direkt den Eindruck einer Unschärfe. Es ist, als ob sich für einen Moment klare Linien auflösen und das Licht teilweise konturenlos im Raum schwimmt. Intuitiv verbindet man diesen Eindruck mit dem Haiku-Inhalt, wobei dem Wort „balancieren“ eine Schlüsselrolle zukommt. Jeder hat schon einmal die unsichere Situation erlebt, die bei einem Wiedersehen nach langer Zeit entsteht. Schwingt nicht immer auch eine gewisse Aufgeregtheit mit und die Frage, inwieweit sich Vertrautes und Bekanntes wiederkennen lässt und noch Bestand hat – noch Bestand haben kann? Wo stehen die Personen jetzt, die sich treffen? Der Vergleich von Schritten auf einem Seil, das sich langsam einzupendeln sucht, drängt sich auf. Wie schnell und wie gut gelingt dieses Ausbalancieren … der äußerlichen Situation allgemein, aber viel stärker noch der Emotionen im Besonderen?
in 42-2021/10
Gerd Romahn
Claudia Brefeld:
Unweigerlich geht der Blick zum Fenster mit seiner Helligkeit, die die Rückkehr des Tages ankündigt, und doch vermag das Licht nicht die Räumlichkeit auszuleuchten. Beengt und trostlos wirkt dieser Ort, der offensichtlich lange nicht mehr genutzt wurde, und der leichte Schauer, den man beim Betrachten verspürt, rührt nicht nur von der Winterkälte im Haiku. Innerlich zieht man die Schultern ein – in diesem Raum ist viel zu erspüren. Was könnten die abblätternden Wände alles erzählen? Die dritte Zeile „die Rückkehr der Dämmerung“ nimmt den Farbton der rechten Wand auf, und es entsteht ein Wechselspiel – beide greifen ineinander und ist es nicht so, als wollten sie uns eine Geschichte anvertrauen, die eigentlich nicht in Worte zu fassen ist?
in 41-2021/8
Gerd Börner
Claudia Brefeld:
Gibt es einen größeren Gegensatz als Text und Bild in diesem Haiga? Johann Gottlieb Goldberg lebte im Spätbarock, nach ihm wurden
die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach benannt. Was immer man mit Spätbarock (Übergang zum Rokoko) verbindet, die
Brücke im Haiga steht dazu sicherlich im starken Kontrast. Das Haiku scheint uns optisch, sowohl durch die Zentriertheit als auch durch
die typografische Gestaltung (hier: der sich verjüngende Text) aus unserer „einengenden“ Gegenwart (Brückenbögen) herauszulocken.
Sind es nicht unsere Sehnsüchte nach Harmonien, die wir vielleicht selbst gar nicht konkret benennen können, die diesem Sog hin zu
einer anderen Welt erliegen und in der wir gefühlsmäßig einschwingen möchten – zumindest für eine kurze Zeit? Bringen sie eine Saite
in uns zum Klingen – oder erscheinen sie uns fremd, gar befremdlich, diese Klänge aus einer anderen Zeit?
in 39-2021/6
Gabriele Hartmann
Christof Blumentrath:
Das Pink Lady- Haiga ist mein Favorit, ich habe nicht lange gezögert. Die Komposition aus reduzierter Fotografie-Arbeit und raffiniertem Text, der gleich mehrere „Interpretationen“ zulässt, ist bestechend. Es ist sehr originell, klar strukturiert und bis ins Detail durchdacht.
Für mich handelt es sich hier um ein Paradebeispiel gestalterischen Könnens, wie man es sich für ein Haiga wünscht. Chapeau.
in 34-2021/1
Gerd Börner
Helga Stania:
In klar-knapper Sprache öffnet dieses Haiku das Drama eines indigenen Volkes, einer Entfremdung von der eigenen
Kultur. Zu Beginn die harten «K», wird die Sprache anschließend weicher, gedehnter hin zu «nicht mehr».
Die patinabedeckte Figur mit der indianischen Doppelflöte unterstreicht die Aussage des Textes.
Das Haiga ist ein Ausschnitt, der ein Buch aufblättert.
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