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Haiga-Besprechung

 

 

in 55-2022/12

 

 

Friedrich Winzer

Claudia Brefeld:
Auf den ersten Blick entlockt mir das Haiga ein Schmunzeln. Wer kennt nicht das Geräusch, wenn morgens bei Winterkälte versucht wird, ein Auto zu starten? Das Auto orgelt und orgelt mitleidvoll und mit jedem Versuch schubst man es fast schon innerlich ein wenig an und wartet auf das erlösende, durchstartende Geräusch. Nun, da es das Auto des Nachbarn ist, sieht man den Vorgang vielleicht etwas entspannter.
Da ist aber auch die dunkle Wolke, die sich halb über das Bild schiebt und mit diesem optischen Schwerpunkt verschiebt sich auch ein wenig die Lesart des Haiku und setzt eine andere mögliche Gedankenkette in Gang. Ist es wirklich nur das Auto, das klagt? Oder ist es auch ein Synonym dafür, wie gerade die steigenden Energiekosten erlebt werden? Dies alles überschattet von einer dunklen Wolke … ?
An dieser Stelle könnten unterschiedliche Interpretationen anknüpfen.

 

 

 

in 54-2022/11

 

 

Ingrid Meinerts

Claudia Brefeld:
Das Erste was beim Betrachten ins Auge fällt, ist das bizarre, schwer zu definierende „Wesen“. Es scheint sich durch einen unwirklichen, imaginären Raum zu bewegen. Für einen Moment lässt mich das Haiku stutzen und lenkt mich dann nach einer kurzen Überraschung intuitiv in eine bestimmte Richtung: es steht für die Metapher „der Elefant im Raum“.
Welche Sorgen und Ängste verkörpert es? Und wohin mit den Fragen, wenn man warten muss? Das Starren auf den Bildschirm erhöht den Eindruck. Und wie unbehaglich ist die Situation für denjenigen, der darunter sitzt?
Eine ungewöhnliche und vielleicht genau darum eine treffende Spiegelung zweier Welten: die Gedanken- und Gefühlswelt in einem zweckmäßigen Warteraum.


in 53-2022/10

 

 

Sonja Raab

Claudia Brefeld:
Eine Treppe auf einem felsenartig wirkenden und doch gleichzeitig abbröckelnden Untergrund, um … ? Um von dort ins Wasser zu springen? Der Wasserstand sehr niedrig, die Treppe auf instabilem Fundament führt nach oben - eine Abkühlung unter erschwerten Umständen, so scheint es. Das Blau des Wassers wird zur Sehnsuchtsfarbe, dies umso mehr, wenn man die 38°C bedenkt. Auf den ersten Blick wirkt alles ruhig, ja fast verlassen. Nur zu heiß, zu wenig Wasser? Aber etwas scheint beunruhigt, die Kieselsteine knirschen schneller.
Diese Diskrepanz zwischen hoch und niedrig, zwischen Verlassenheit und Unruhe schafft eine eigene Spannung, eine eigene Aufmerksamkeit und setzt beim Lesen etwas in Gang, das nur schwer zu erfassen aber auch nicht zu ignorieren ist. Das Haiga lässt genug Freiraum, um verschiedene Assoziationen zuzulassen, ohne dabei in Beliebigkeit abzudriften!

 

 

 

in 52-2022/8

 

 

Stoppelfelder
die Überreste von etwas
das ich nicht benennen kann                                     Debbie Strange



Claudia Brefeld:
Aufstrebend die reife Rispe, die Sonnenstrahlen einzufangen. Ist es ein Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang, in dem sich das Korn wiegt? In der Sonne und mit der Sonne rundet sich alles. Zugleich formen sich schlicht und unaufdringlich ganzheitliche Gedanken, binden ein Vorher und Danach mit ein. Es entsteht ein großer Raum des Nachhalls, den wir durchwandern können, in dem wir uns verlieren dürfen, ohne dass wir uns verloren fühlen müssen. Gleichwohl schwingt auch Wehmut mit. Es ist ein Nachsinnen über die leisen Töne des Lebens.

 

 

 

in 51-2022/7

 

 

Helga Stania


Claudia Brefeld:
Zart, leicht, intensiv, verhalten – dieses Haiga strahlt alles zugleich aus. Ausgewogen und kräftig in seiner Unschärfe, verspielt und duftig in der Andeutung der Blüten. Fast schützend die feine Schrift-Linie auf der linken Seite, als wolle sie den Blick ein wenig zurückhalten. Bitte nicht stören. Der Maiwind in den Blüten – eine wundersame Welt, in der sich die Handschrift unauffällig einwebt.
Diese Welt, die uns anzieht – möchten wir uns nicht einfach nur darin fallen lassen? Oder nehmen wir uns intuitiv zurück, weil wir spüren, dass wir ein Fremdkörper in diesem kleinen Kosmos wären?

 

 

 

in 50-2022/6

 

 

Winfried Benkel


Claudia Brefeld:
Voll, fast übervoll scheint das Haiga zu wirken – diese vielen Vergissmeinnicht-Blüten, die sich wirr und suchend beim Betrachten entgegenstrecken. Dieses Bild korrespondiert verhalten und zugleich sehr gezielt mit dem Haiku-Inhalt, interpretiert das Verwirrtsein und Vergessen auf eine eigene Art, ohne den Haiku-Inhalt dadurch optisch wiederzugeben bzw. zu wiederholen. Gleichzeitig verwebt sich das Haiku in seiner Einzeiligkeit unauffällig mit dem Muster des Bildes, reiht sich ein als eine Form des Verschwindens und des Auflösens – eine gelungene Interaktion. Das Schwarz-Weiß-Foto passt stimmig zum alten Tagebuch und zum Blick in die Vergangenheit, fragend und erstaunt zugleich.
Ein Haiga mit Tiefe und Nachhall.

 

 

 

in 49-2022/5

 

 

Kerstin Hirsch


Claudia Brefeld:
Auch wenn man erst einmal das Wort „Suche“ im Haiku liest – geht es nicht trotzdem ums Suchen und ums Finden? Sind diese Fußspuren, die sich im Bild auf uns zubewegen, nicht eigentlich die alten Gefühle, von denen man gefunden werden möchte? Wir wissen sehr genau, wie erinnerungsträchtig Orte für uns sind. Orte, die unsere Gefühle aufbewahren und gleichzeitig zum Türöffner für unsere Erinnerungen werden. Der Vergangenheit nachspüren, vielleicht längst Vergessenes wieder entdecken – oder sich von ihnen finden lassen! Dieser Spannungsbogen zwischen Haiku und Bild eröffnet eine neue Ebene, die zu einer Entdeckungsreise in uns selbst führt!

 

 

 

in 48-2022/4

 

 

Ramona Linke


Claudia Brefeld:
Vielleicht mit dem ersten Blick nicht gleich zu erfassen, aber selten scheinen zwei Welten so aufeinanderzuprallen. Das verstummte Ticken einer zeitlosen, leeren Uhr im Pflegeheim und die Eleganz im Nadelstreif. Da möchte jemand diese fremde Welt möglichst wenig berühren – ja, ungern den Flur betreten. Strahlt die Uhr nicht all das aus, was der Mensch verdrängen will? Fühlt er sich gefangen in seinem eigenen Unbehagen – so, wie der Ring der Uhr sich um das Haiku legt? Oder folgt nach diesem Beäugen ein langsames Herantasten?

 

 

 

in 47-2022/3

 

 

Ingrid Meinerts


Claudia Brefeld:
„Koppheister“ – welch ein herrliches Wort: alles scheint purzelbaumartig und unbeschwert außer Kontrolle zu geraten. Ein fröhlicher Kontrapunkt zu diesen Tagen, in der wir kaum Zeit finden, die aufwühlenden Nachrichten, die auf uns einprasseln, zu begreifen und einzuordnen. Die leicht verspielte Schrift, die durcheinandertanzenden Blüten – möchten wir da nicht für einen Moment über die Wiese tollen, um diesen ausgelassenen Frühling einzufangen? Genau für diesen Moment öffnet sich das Haiga, nimmt uns mit in unbeschwert-fröhliche Kindertage, erinnert uns an eine Normalität, die uns mehr und mehr zu zerrinnen droht.
Ein kleiner starker Augenblick, der einfach nur gut tut.

 

 

 

in 46-2022/2

 

 

Haiku: Ellen Althaus-Rojas / Foto: Gabriel Goworek


Claudia Brefeld:
Ist es die Farbgestaltung, die mich in diesen novembertrüben Wintertagen so unvermittelt anspricht? Auf jeden Fall ist es ein erfrischendes Beispiel dafür, wie Schriftfarbe ein Haiku mitgestaltet und seinen Inhalt eindrücklich mit dem Bild zu einer neuen Gesamtaussage verschmelzen lässt. Die dunkle Tiefe des schwarz-weiß gestalteten Fotos evoziert Kälte und eine undefinierbare, eher drückende Stimmung. Helle Eiskristalle lassen erste Sonnenstrahlen erahnen. Und noch bevor man den Haiku-Inhalt vollständig erfasst hat, tragen uns die leuchtenden Farben kraftvoll zum „Morgen“, zu den „Vogelstimmen“. Nur das „danach“ im Haiku verbindet sich optisch noch mit der dunklen Tiefe des Fotos. Welches Ereignis in der Nacht bleibt hier unbenannt? Wie viel Platz räumen wir ihm ein – dort, wo es zwischen dem hellen Blau und dem Grün hochdrängt? Schaffen wir es, es als blasser werdende Erinnerung in die farbliche Aufbruchstimmung einzubetten, die so erlösend wirkt?

 

 

 

in 45-2022/1

 

 

Himmel überm Zoo
Wolken bauschen sich auf
zu Tiergestalten                            John Zheng


Claudia Brefeld:

Es ist dieser abstrakte Minimalismus, der einen besonderen Reiz auslöst. Und es ist diese suggestive Kraft, die uns sogleich nach Tiergestalten suchen lässt, obwohl wir uns beim Betrachten ja nicht im Zoo befinden. Wonach suchen wir und was erkennen wir? Ist es etwas aus unserer konkreten Umgebung (hier durch den Zoo angedeutet) oder sind es eher Wunsch- und Phantasie-Figuren? Sind wir verankert oder eher träumerisch? Und was würden wir entdecken, wenn wir auf das Haiga zu einer anderen Zeit mit einer anderen Sensibilität oder Befindlichkeit schauen? So werden diese Silhouetten letztendlich auch zu einem Spiegelbild unseres eigenen Inneren. Ein schönes Beispiel, wie die persönliche Stimmung die Wahrnehmung und Interpretation eines Haiga beeinflusst und Gewichtungen verschieben lässt.